HEIDELBERGER WESTSTADT
IM WANDEL

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1972:
Linkskatholischer Jugendverband in der Weststadt

macht sich selbständig
Die „rebellische“ Gemeindejugend  St. Bonifatius engagierte sich ab 1972 autonom und unabhängig von der Kirchengemeinde in der Weststadt. In eigenen Räumen, im sogenannten „Walzenkeller“ (Ecke Gaisbergstraße/Adenauerplatz), setzte der exilierte katholische Jugendverband BDKJ/KJG seine bewährte und gut frequentierte Kinder-und Jugendarbeit fort.  Die jungen Katholiken wollten mehr Demokratie in der Kirche und in der politischen Gemeinde, sie wollten die Freizeitsituation für junge Menschen in der Weststadt verbessern. Man engagierte sich für Gerechtigkeit, Frieden und gegen das Militär in der Welt und nahm am kommunalpolitischen Geschehen aktiv teil. 
Dieses Engagement war  für die eher konservativ orientierten katholischen  Gemeindemitglieder, die Honoratioren beim Stadtteilverein und auch für die Heidelberger Stadtverwaltung, die vom damaligen Oberbürgermeister Zundel mit strenger Hand geführt wurde, ein ständiges Konfliktfeld. Die  jungen Katholiken scheuten vor den Konflikten nicht zurück. Manche meinten, sie suchten diese sogar.  1983 mündete das Engagement in die Gründung des KULTURFENSTER e.V. Im gleichen Jahr startete dieser Verein das Stadtteilfest SOMMERSPEKTAKEL.
Mitte der 60er Jahre erreichte die studentische Rebellion die im Bund der deutschen katholischen Jugend St. Bonifatius in der Weststadt organisierten Jugendlichen. Sie begeisterte sich für diesen gesellschaftlichen Aufbruch und brachte mit ihrem politischen Engagement die katholische Gemeinde ganz schön in Aufruhr. 
Die Jugendlichen orientierten sich nach wie vor am Christentum, waren aber sehr kritisch gegenüber der Amtskirche und den dogmatischen Prinzipien des Katholizismus eingestellt. Sie folgten eher der „linken, südamerikanischen Befreiungstheologie“. 
Die Gemeinde St. Bonifatius hatte nur wenig Verständnis für die vielen neuen, rebellischen Ideen seines Jugendverbands. 1972 bereitete dann die Gemeinde St. Bonifatius diesem Treiben ein Ende und warf ca. 200 Jugendliche aus den Gemeinderäumen .
Die bedeutete aber keineswegs das  Ende der „linkslastigen, emanzipatorischen“ Jugendarbeit in der Weststadt. Im Gegenteil: sie wurde von den jungen Leuten von nun autonom und selbstverwaltet in eigenen Räumen fortgesetzt. 
Konzepte und Ideen vom brasilianischen Pädagogen Paolo Freire, vom Jesuiten und ökologischen Theoretiker Ivan Illich, vom kürzlich verstorbenem Gustavo Gutierrez aber auch vom Wegbereiter der antiautoritären Erziehung, Alexander S. Neill fanden weiterhin den Weg in die Katholische Jugendarbeit und die Bildungsarbeit für Jugendgruppenleiter. 
Das neue Domizil des BDKJ Weststadt/St.Bonifatius war der sogenannte „Walzenkeller“, Ecke Gaisbergstraße, Adenauerplatz.
Kinder des Hausbesitzers engagierten sich im BDKJ. Der Hausbesitzer stellte dem BDKJ die Kellerräume bis etwa 1979 kostenfrei zur Verfügung. 
 
"Walzenkeller": In den Kellerräumen dieses Anwesens Ecke Gaisbergstraße/Adenauerplatz residierte von 1972 bis ca. 1979 der autonome weststädter katholische Jugendverband BDKJ/KJG.
Die Jugendarbeit hatte den Charakter eines selbstverwalteten Jugendzentrums. Die Angebotspalette war vielfältig: Ferienfreizeiten für Kinder, Roadtripps für Jugendliche in den Süden, Engagement im Stadtteil (Weststadtfest des Stadtteilvereins), Diskussionen und Aktionen zu aktuellen Themen, Solidaritätsarbeit für Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, Kriegsdienstverweigerung usw.

 

Bis Ende der 70er war der „Walzenkeller“ auch eine angesagte Partylocation, wo u.a. der spätere Initiator der Diskothek NACHTSCHICHT seine ersten Erfolge als DJ feiern durfte.
Die „älteren“ Jugendlichen des BDKJ St. Bonifatius engagierten sich in den „überpfarrlichen“ Strukturen des BDKJ und der KJG: Dekanat, Diözese und Bundesebene. 
Dort gab es alsbald ähnliche Auseinandersetzungen und Konflikte mit der Amtskirche um die bewegenden Fragen, wie sich Kirche verändern müsse, um ihrem christlichen Auftrag in einer ungerechten, unfriedlichen Welt besser gerecht zu werden. Ausführliche Dokumentationen zu diesen Konflikten siehe unten. 
1980-1982 Zwischenspiel des BDKJ/ der KJG im katholischen Gemeindehaus
Zu Ludwig Bopp, Gemeindepfarrer der katholischen St.Bonifatiusgemeinde, verantwortlich für den Rausschmiss des BDKJ aus dem Gemeindehaus , bestand über die Jahre hinweg trotz aller Differenzen ein gegenseitiges wertschätzendes Verhältnis.Schließlich war er einstmals der Mentor der aufmüpfiger werdenden katholischen Jugend.
Die große Wertschätzung von Pfarrer Ludwig Bopp drückte sich auch in der Todesanzeige 2021 aus, die von den ehemaligen Mitgliedern des BDKJ St. Bonifatius aufgegeben wurde.
Bopp und die Gemeinde gestattetem 1979 dem neuerlich heimatlos gewordenen Jugendverband, der WALZENKELLER stand nun leider nicht mehr zur Verfügung, erneut die Nutzung der Gemeinderäume. 
Die erhoffte „Wiedervereinigung“ zwischen BDKJ/KJG und der Gemeinde St. Bonifatios war dann doch ein zu frommer Wunsch.
Beim Jugendverband KJG/BDKJ wirkten Ende der 70er Jahre immer mehr „fremde“ Gesichter mit, die nichts mit der katholischen Pfarrgemeinde zu tun hatten. Student*innen des Erziehungswissenschaftlichen Seminars nutzten die vorhandenen Strukturen der Kinder-und Jugendarbeit um sich ein Praxisfeld für ihr Studium zu schaffen.
Jugend- und Kinderarbeit fanden zwar noch unter dem christlichen, katholischen Label statt, hatten aber tatsächlich kaum noch etwas mit christlich motivierter Jugendverbandsarbeit zu tun. Stattdessen traten kulturpädagogische, ästhetische und auch stadtteilorientierte Jugendarbeitskonzepte in den Vordergrund. Anfang 1983 ging mit der Gründung des KULTURFENSTER e.V. diese Phase der Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde erneut  zu Ende.
So geht die Geschichte weiter, Link
Plakat Kinderaktion der KJG Ende 1982: "Schau dich um in Deiner Stadt"

DOKUMENTE

Persönliche Erinnerungen einer Gruppenleiterin
Gedanken und Erinnerungen 73 – 79:  Abbruch und Neuaufstellung
Eckpunkte für mein Engagement im BDKJ
1972 Sommerlager Bezau:, S…und ich kochen, uns gefällt das Lagerleben und das Leitungsteam, wir beschließen, auch eine Gruppe leiten zu wollen.
Brief von H… nach Bezau: Gemeindeleitung hat Schlösser in St Hildegard ausgetauscht, wir kommen mit unseren Gruppen nicht mehr in die Räume
73 Gruppenleiterkurse in Heiligkreuzsteinach: Kennenlernen von Arbeitsmaterial für Gruppen, Kommunikationsmodelle Rogers und Ruth Cohn, Reflexion über Motivation, Entwicklungspsychologie und Reflexion der Arbeit vor dem Hintergrund von Jesus Handeln in der Welt.
Ab 1973 Übernahme einer gemischten Kindergruppe mit C….. Gruppenstunden fanden im Haus der Jugend statt, da für unsere Arbeit kirchliche Räume verschlossen waren. Im HDJ betreuten auch noch, S…, G….und W… Kindergruppen. Kontakte mit dem Weststadtverein ermöglichten uns die Bedienung am Weststadtfest und damit finanzielle Unterstützung für die Arbeit, ich erinnere mich auch noch an die Beteiligung an einem Spielplatzbauprojekt mit unseren betreuten Kindern und den Pfadfindern.
Ab 74 werden Kellerräume für die Arbeit von Dr. Walz zu Verfügung gestellt, in stundenlanger Eigenleistung werden Räume hergerichtet, dass darin Jugendarbeit möglich ist. Über B. ist dieser Kontakt entstanden…………
Zunächst findet traditionelle Kindergruppenarbeit in festen Gruppen statt, es werden die Eltern der Kinder regelmäßig kontaktiert, jährlich findet eine Sommerfreizeit statt.
Die feste Gruppenarbeit wird immer mehr zu Gunsten einer offenen Jugendarbeit zurückgefahren. Es finden zu bestimmten Öffnungszeiten Begegnungen statt, das Hören von Musik und Party feiern waren wichtige Elemente.
Wir sind zum Treffpunkt für viele heimatlose Jugendliche geworden, die wenig soziale Anbindungen hatte. Heute würde man das vielleicht als Randgruppenarbeit bezeichnen. Erwähnenswert waren auch die jährlich stattfindenden Jugendfreizeiten, die damals schon erlebnispädagogisch orientiert waren.
Zwischenzeitlich liefen auch noch Gespräche mit der Gemeinde, die Kluft wurde jedoch immer größer. Wir machten Jugendarbeit mit „Greti und Pleti“ ( Zitat Gemeindeleitung), in St Bonifatius wurde versucht, eine eigene kirchenkonforme Jugendarbeit zu etablieren.
Mit dem Synodenbeschluss „Ziele und Aufgaben Kirchlicher Jugendarbeit“ wird Jugendarbeit definiert als „Dienst der Kirche an der Jugend der Kirche und an der Jugend überhaupt“ .
Die Kirche nahm somit die Jugend der Kirche und wir die Jugend überhaupt in den Blick. Über die ganzen Jahre gab es keinerlei Anerkennung oder Würdigung gegenüber unserer Arbeit, die Jugendliche ansprach, die sonst nirgendwo beheimatet waren. Eine aus heutiger Sicht wertvolle Arbeit, die ehrenamtlich geleistet wurde, heute wird eine solche Arbeit eher von Profis getragen.
Mit den Jahren erlischt der Kontakt zur Kirchengemeinde. Im Waltzenkeller werden ca 200 Kinder und Jugendliche weitgehend autonom betreut.
Über Schulungen auf Dekanatsebene, Versammlungen findet weiterhin eine Auseinandersetzng mit kirchlichen Themen statt. Die Auseinandersetzung mit Paolo Freire, die Befreiungstheologie, Texte von Ernesto Cardenal … gaben wichtige Impulse für die Arbeit mit unseren Kindern und Jugendlichen.
Ebenso wichtige Impulse gingen von der Projektarbeit als pädagogischen Ansatz für die Arbeit mit Jugendlichen aus.
1977 Bundestreffen „Forum Aachen“ machte die Hinwendung zur handlungsorientierten Arbeit nochmal auf breiter Ebene deutlich und erfahrbar.
Die Konflikte zwischen der Auffassung der Amtskirche und des BDKJ zeigten sich auch auf Dekanatsebene. Mit Entscheidung der Vergabe der Dekanatsjugendreferentenstelle an eine von Außen kommende Erzieherin, wurde ein Traditionsfaden willkürlich zerschnitten.
Die lebendige Auseinandersetzung mit aktuellen kirchenpolitischen Themen erlosch immer mehr.
Ich erinnere mich noch an groteske Dekanatsversammlungen bei denen die Kompetenz von engagierten jungen Menschen mit der Antwort auf die Frage „Glauben Sie überhaupt an die Auferstehung“ gemessen wurde (Frage des damaligen Kaplans Uhl, heutiger Weihbischof)
Liedgut
Im Liedgut zeigt sich viel von unserer inhaltlichen Orientierung:
Liedermacher, Zupfgeigenhansel (z.B. Bürgerlied, …)
Sacropop Peter Janssen: wir haben einen Traum, Die Vision, Schweig nicht – handle
Neue Kinderlieder: „Hast Du Deine Zahnbürste dabei“, „der Baggerführer Willibald“ „He du mich drückt der Schuh“…
Pink Floyd: we don‘t Need You Education
Stones

Impressionen -Jugendarbeit

Kinder-und Jugendfreizeiten im In-und Ausland, Engagement im Stadtteil, Engagement für eine gerechtere, friedlichere Welt, aber auch Party im Walzenkeller: 
von 1973 bis 1979 ein umfassendes Programm, ganz im damaligen Zeitgeist…

Selbstverantwortung und Selbstverwaltung

Die innerverbandlichen Leitungs-und Entscheidungsstrukturen vom BDKJ St.Bonifatius (im Exil) sind sehr demokratisch organisiert gewesen. Die Gruppen werden von jungen Menschen geleitet, die ein paar Jahre älter als ihre Gruppenmitglieder waren. Eine Gruppenleiterausbildung des Jugendverbandes war in der Regel die Voraussetzung für diese verantwortliche Tätigkeit. Die Jugendgruppenlleiter bildeten das Leitungsteam, das die volle  Verantwortung für alle Aktivitäten hatte. Eine gutes Übungsfeld für die frühe Übernahme von weitreichender Verantwortung für andere Menschen.
Es folgen einige Dokumente aus der „Leitungstätigkeit“:

Umbruch auf allen Ebenen des Jugendverbands

Einge etwas ältere BDKJler*innen engagierten sich nach dem Rausschmiss aus der Gemeinde St. Bonifatius (1972) intensiver in den überpfarrlichen Strukturen (Dekanat, Diözese und Bund)  des Jugendverbands und stießen dort auf die gleichen Strukturen wie in der Pfarrgemeinde. 
Es entwickelten sich neue Konflikte nach dem gleichen Muster wie in der Pfarrgemeinde. Auch hier ging es um Fragen der innerkirchlichen Demokratie, um gesellschaftspolitsche Orientierungen, auch um Fragen der persönlichen Lebensgestaltung eines Mitglieds der Bundesleitung der KJG, der zuvor auch im BDKJ/KJG St. Bonifatius eine aktive Rolle spielte. Die außereheliche Lebensgemeinschaft und seine politische Orientierung beschäftigte am Ende sogar die deutsche Bischofskonferenz. 
Die unten stehenden Dokumentationen geben den Verlauf dieser Konflikte wieder, der sich zwischen der Deutschen Bischofskonferenz und der Bundesleitung der KJG entwickelte.